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Menschen auf der Flucht : Bihać, Bosnien & Herzegowina, 19.3.21-1.4.21

Wir fahren keinen Kilometer, als sich uns einen Blick auf eine auf einem Hügel thronende Moschee eröffnet. Wir sind in freudiger Erwartung auf dieses für uns fremde Land. Doch unser Entdeckungsdrang müssen wir noch etwas zurücknehmen. Die nächsten Tage werden wir nicht Velofahren, sondern in der Kleinstadt Bihać verbringen. Dort arbeiten wir beim Frachkollektiv mit. Das ist eine Gruppe von Menschen, die seit 3 Monaten in Bihać ist, um die hier gestrandeten Menschen auf der Flucht mit dem Nötigsten (v.a. Lebensmittel, Kleidung) zu versorgen.


Bihać ist wegen seiner Grenznähe zu Kroatien und somit zur EU zu einem Hotspot für Menschen auf der Flucht geworden. Die Situation der Menschen auf der Flucht in Bihać (und anderen Orten in Bosnien & Herzegowina) ist grauenvoll. Das Flüchtlingscamp Lipa (25 km ausserhalb von Bihać) ist in einem sehr schlechten Zustand und überfüllt. Tausende Geflüchtete halten sich in der Stadt auf. Sie leben an verschiedenen Orten (verlassene Gebäude und Fabrikhallen, Zeltlager o.ä.) in der Stadt - ohne regelmässige Mahlzeiten, ohne Strom, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne fliessendes Wasser, ohne medizinische Versorgung, ohne Heizung. Die bosnischen Behörden fahren die Strategie, die Geflüchteten “auszuhungern” und leisten keine Hilfe, ja kriminalisieren diese z.T. sogar. Auch grosse Hilfsorganisationen sind nur bedingt vor Ort. Ein Grossteil der Versorgung der Menschen in Bihać wird von kleinen NGOs geleistet. Was wir hier vor Ort sehen und mitbekommen ist eine humanitäre Katastrophe, die vor den Toren der EU, der Schweiz und Liechtensteins passiert.


Nach den Tagen in Bihać fahren wir mit gemischten Gefühlen weiter. Die Mitarbeit beim Frachkollektiv war eine Erfahrung, die uns viel gelehrt hat. Hilflosigkeit und das Gefühl nachhaltige Hilfe leisten zu wollen, ist sehr präsent. Doch wie sieht Nachhaltigkeit in einer so komplexen, verfahrenen Situation aus? Wir haben keine Ahnung. Vielleicht werden wir im Verlaufe der Zeit und unserer Reise noch schlauer.



Hamid


Hamid ist 19 Jahre alt. Heute ist sein Geburtstag. Es ist sein zweiter Geburtstag seit er Kabul verlassen hat. Es ist ein sonniger Tag. Er sitzt am Ufer der Una auf einer Bank und telefoniert mit seiner Mutter. Zu fünft teilen sie sich ein Handy. Heute darf er es benutzen. Er hat sich so positioniert, dass die schöne Brücke und das Restaurant mit Terrasse im Hintergrund zu sehen ist. “Alles in Ordnung, es geht mir gut.” versichert er seiner Mutter. Das Gespräch ist kurz. Es ist teuer und die Akkuladung muss noch eine ganze Weile reichen. Ausserdem, was soll er schon erzählen? Die Wahrheit? Nein, sicher nicht. Sein Blick fällt auf das mehrstöckige, zerfallene Fabrikgebäude vor ihm. Sein derzeitiges Zuhause. Er teilt es mit 200 anderen jungen Männern aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesh. Rauch qualmt aus den scheibenlosen Fenstern. Abfall und zerschlissene, durchgetragene Klamotten und Schuhe liegen überall herum. Ein paar der Anderen sind auch schon wach. Sie waschen sich am Fluss oder verrichten ihre Notdurft hinter Büschen.


Die Sonnenstrahlen tun Hamid gut. Es war eine kalte Nacht. Das Feuerholz ist ausgegangen. Sie haben daher heute Nacht Abfall und Kleidung verbrannt. Der Qualm war unerträglich, atmen kaum mehr möglich. Wie auf Kommando wird er von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt. Hie und da kommt eine Frau vorbei, die ihnen Holz bringt. Jetzt war sie schon eine Weile nicht mehr da. Sie ist Bosnierin und spricht Englisch mit hartem Akzent. Er versteht sie nur schwer. Die Leute, von denen er manchmal Essen bekommt, sprechen ganz anders. Langsamer, runder, höher. Das klingt ziemlich lustig. Sie kommen dorther, wo er hin will: Mitteleuropa. Für ihn sehen sie irgendwie alle gleich aus. Nein, nicht alle. Da ist eine junge Frau mit himmelblauen Augen und einem sanftmütigen Lächeln, das ihn selbst auch zum lächeln bringt.


Zu fünft werden sie heute Abend zu Grenze aufbrechen. Er ist aufgeregt. Europa ist zum greifen nah. Endlich. Vielleicht ist es bald geschafft? Doch dann beschleicht ihn wieder die Angst. Wie ein eiserner Klumpen setzt sie sich in seinem Bauch fest. Fast wird ihm übel. Für ihn ist es das erste Mal. Für Ahmed auch. Aber Sami, Rashid und Yaqub haben schon Erfahrung mit dem “Game”. So werden die Versuche, über die Grenze zu kommen, genannt. Eine verzweifelte Bemühung, dem gefährlichen Vorhaben das Grauen zu nehmen und ihm etwas Scherzhaftes zu verleihen. Sami und Rashid haben es im Herbst schon 4x versucht. Was sie erzählen, hat Hamid erschreckt. Sie wurden geschlagen, von Hunden gejagt, ihre Sachen wurden gestohlen und verbrannt, als sie von der kroatischen Grenzpolizei aufgegriffen wurden. Sami hatte beim letzen Mal eine schlimme Wunde am Bein davongetragen. Sie ist nur schlecht verheilt. Doch er sei fit genug für einen weiteren Versuch, sagt er. Aufgeben ist keine Option. Yaqub hatte es schon einmal bis nach Triest in Italien geschafft. Dann haben sie ihn bis nach Bihać zurückgefahren. Doch auch er verliert die Hoffnung nicht. “Das nächste Mal schaffe ich es bis nach Österreich oder in die Schweiz.”, sagte er kämpferisch.


Hamid kennt die Angst. Als seine Schule in Kabul beschossen wurde, als der Kugelhagel in seinen Ohren dröhnte und pfiff, als er Ava blutend am Boden liegen sah, da war der eiserne Klumpen im Bauch noch viel grösser. Er atmet durch. “Für dich Ava, kleine Schwester, werde ich mutig sein.”

Hamids Geschichte ist fiktiv, fusst aber auf Zuständen und Begebenheiten, die in Bihać Realität sind.


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