Unsere erste Nacht in der Türkei verbringen wir ganz idyllisch auf einem Lastwagenparkplatz. Es ist einer dieser Tage, die sich richtig nach “reisen” anfühlen. Das heisst bei weitem nicht, dass diese Tage nur schön sind. Nein. Oft sind es anstrengende, ereignisreiche Tage. Wir sind viel gefahren, sind bettelnden Frauen und Kindern begegnet und trafen auf einen am Strassenrand liegenden Mann in gesundheitlich sehr bedenklichem Zustand. Doch trotz Nachfragen und Hilfe anbieten konnten wir ihm leider nicht wirklich etwas Gutes tun. Solche Erfahrungen müssen verdaut werden. So sind wir gedanklich noch ziemlich wo anders, als wir gegen Abend in die Türkei einrollen.
Mit dem Fahrrad Grenzen zu überqueren ist für uns immer etwas besonderes. Selbst in Europa. Etwas ist abgeschlossen, etwas Neues beginnt. Aufregende Neugierde auf ein weiteres Land kommt auf. Nie fühlt es sich so gut an, mit dem Fahrrad so weit gefahren zu sein, wie an Grenzübergängen. Komisch eigentlich, denn Landesgrenzen sind ja etwas willkürliches von Menschen gemachtes - und eigentlich völlig sinnfrei. Trotzdem haben sie für uns etwas abenteuerliches, das unser Entdeckungsgeist kitzelt. Ist es das Gefühl von “Ferne”, das uns so gefällt? Doch heute sind wir einfach müde. So schlagen wir gleich nach der Grenze bei besagtem Lastwagenparkplatz unser Zelt auf. Die interessanten Plätze sind nicht zwingend immer auch die schönsten.
Wir sind noch keine halbe Stunde in der Türkei, als wir zwei Becher Instantkaffee geschenkt bekommen. Ein Vorgeschmack auf die türkische Gastfreundschaft. Später sollten es vor allem Einladungen zu Chai und Lebensmittelgeschenke wie Brot, Obst und Süssigkeiten sein, die diese zum Ausdruck bringen.
Die nächsten Tage fahren wir durch Ostthrakien (europäischer Teil der Türkei) Istanbul entgegen. Das bedeutet viel Schnellstrasse durch relativ unspektakuläre landwirtschaftlich genutzte Flächee. Tankstellen werden zu unserer Anlaufstelle für Snacks, Toilettenstopps, Schattenpausen und manchmal sogar zum schlafen. Wir trinken Chai mit den Tankstellenwarten und wenden in holprigen Gesprächen unsere ersten erlernten türkischen Vokabeln an. Kurze, willkommene Abstecher in die Orte entlang der Schnellstrasse lassen uns einen Blick in etwas mehr türkisches Alltagsleben erhaschen. Auf Grund des strengen Lockdowns ist das momentan aber sehr eingeschränkt. Die Polizei kontrolliert die Einhaltung der faktischen Ausgangssperre akribisch. Auch wir werden mehrfach kontrolliert. Dabei aber jeweils freundlich behandelt und in der Türkei willkommen geheissen. Die Lockdownregeln gelten für Touristen nicht. Aus egoistischer Sicht ist das gut, weil es uns das reisen in der Türkei ermöglicht. Objektiv und aus ethischer Perspektive finden wir das aber mehr als fragwürdig. War es in den bisher besuchten Ländern so, dass durch Covid-19 das Gefühl des “Wir sind alle gleich” sehr präsent war, ist das in der Türkei plötzlich anders. Hier sind nicht alle gleich. Es wird mit zweierlei Mass gemessen.Touristen dürfen an den Strand, sie dürfen baden, sie dürfen sich draussen frei bewegen und an Touristenhotspots sind sogar die Restaurants geöffnet. Es fühlt sich schlicht falsch an. Obwohl wir es nie direkt spüren, ist wohl auch die türkische Bevölkerung teils nicht einverstanden mit dieser Regelung.
Die Fahrt in die 15 Millionen-Metropole Istanbul ist wegen des Lockdowns tatsächlich erträglich. Mit dem Velo in eine Grosstadt zu fahren ist selten ein Vergnügen (für uns). Doch können wir auf dem knapp 50 Kilometer langen Weg ins Zentrum das Ausmass der Stadt richtig erfassen. Und wir sind beeindruckt. Noch nie waren wir in einer so grossen Stadt.
Die ersten Tage in Istanbul sind extrem ruhig, da der Lockdown noch andauert. Wir teilen uns die leeren Strassen nur mit den 200ˋ000 Strassenhunden und wohl ebenso vielen Katzen, die hier leben. Naher wird es dann deutlich lebendiger. Wir probieren allerlei einheimische Leckereien, machen etwas Sightseeing, spazieren in den Parks, am Meer und durch die Gassen und Strassen der verschieden Stadtviertel, die alle eine eigene Atmosphäre haben. Zudem gibt es noch das eine oder andere zu erledigen. So ist schnell einmal eine Woche vorbei.
Wir verlassen Istanbul gen Norden. Erstaunlich schnell finden wir uns in behaglichen Wohnvierteln wieder. Mit jedem Kilometer wird es ruhiger, grüner und ländlicher. Wir fahren an etlichen für uns etwas seltsam wirkenden offiziellen, kostenpflichtigen Picknick-Plätzen vorbei. Es sind parkähnliche Anlagen in denen ein Picknick-Tisch neben dem nächsten steht. Picknicken ist eine grosse Sache in der Türkei und wird oft und gerne mit der ganzen Familie gemacht.
Am Schwarzen Meer machen wir ein paar Tage Strandferien. Die Steilküste wird immer wieder von sandigen Buchten unterbrochen. Auf den Campingplätzen treffen wir auf viele freundliche Menschen. Sie verwöhnen uns mit türkischem Frühstück, Kaffee, Keksen, gegrilltem Fleisch und immer wieder Chai. Teilen ist eine Selbstverständlichkeit für viele Türk_innen.
Unsere Route führt uns auf mohnblumengesäumten Strassen ins Landesinnere. Die ersten Tage sind geprägt von dichtem Grün: Haselnussplantagen, Wälder, Tee- und Tabakfelder. Unterwegs entdecken wir kuriose Bauten, schlagen uns in kleinen Strassenrestaurants für 5.00 Chf den Bauch voll, fahren durch traditionelle Bergdörfer, beobachten die Menschen bei der Feldarbeit und trinken mit verschiedensten Leuten Tee. Ach ja, wir werden beschenkt. Hatte ich das erwähnt?
Die Landschaft ändert sich fast schlagartig als wir über den Aynalekaya Gecidi-Pass kommen. Es wird karger. Über rote, grüne und graue Fels- und Steinlandschaften erreichen wir die zentralanatolische Hochebene in der die Landschaft steppenähnliche Züge annimmt. Es ist eindrücklich und wunderschön.
Die Siedlungen werden kleiner und einfacher hier oben auf gut 1000 M.ü.M. In Teehäusern oder kleinen Lokalen, die wir manchmal erst auf den zweiten Blick als solche erkennen, kehren wir gerne auf einen Chai ein. Ein warmes Getränk ist bei morgendlichen Temperaturen um die 8 Grad sehr willkommen. Moscheen finden sich fast überall. Für uns sind sie wertvolle Wasserquellen, manchmal sogar in Trinkwasserqualität. Vor dem Gebet waschen Muslime Hände, Gesicht und Füsse. Das Ritual hat einen festen Ablauf und wird in der Türkei “Abdest” genannt. Im Aussenbereich von Moscheen befinden sich daher immer Brunnen mit Waschstationen. Mehrmals täglich hören wir den Gesang des Muezzin. Hatten wir das aus Marokko als stimmungsvoll in Erinnerung, ist dieser Zauber nach einem Monat in der Türkei fast gänzlich verschwunden. Es ist meist einfach nur laut, schrill und schäppernd. Sollte es für einmal keine Moschee in einem Dorf haben, werden kurzerhand Lautsprecher an Strassenlaternen oder Strommästen befestigt, so dass auch wirklich niemand auf den Gesang verzichten muss.
Die wirtschaftliche Situation ist für viele Türk_innen schwierig. Dass der türkische Lira in den letzten Jahren massiv an Wert verloren hat, setzt den Menschen zu. Viele Leute im Hochland leben von ihren Kuh-, Schaf- und Ziegenherden. Sie ziehen teils noch als Hirten durch das hügelige Weideland. Wo Schafherden sind, sind auch Hirtenhunde - riesige anatolische Schäferhunde, die bis zu 80 kg wiegen. Diese werden auch gerne als Wachhunde eingesetzt. Und wir müssen sagen, sie machen ihren Job gut. Sie jagen uns bellend, knurrend und Zähne fletschend hinterher, wenn wir auf der Strasse ihr Revier passieren. Das ist ja nicht ganz neu für uns. Schon seit Bosnien hatten wir immer mal wieder bellende Hunde hinter uns. Doch die Aggressivität und Hartnäckigkeit der Wach- und Schäferhunde im zentralanatolischen Hochland überrascht uns doch. Ein besonders ungemütlicher Zeitgenosse geht sogar soweit und beisst in Meios linke Hinterradtasche. Bisher hatten wir geglaubt, dass es bei Gebell und Drohgebärden bleiben würde. Damit, dass einer tatsächlich zubeisst, hätten wir nicht gerechnet. Ein Schreck, den wir verdauen müssen. Doch dafür bleibt kaum Zeit. Bereits am nächsten Morgen schrecken wir aus dem Schlaf auf. Es knurrt und bellt vor unserem Zelt. Hä? Haben wir noch Alpträume von gestern? Eine Schafherde mit ihrem engagierten Wächter hat sich unser Wildcampingplatz als Weide ausgesucht. Das dunkelgrüne fremde Etwas, das hier doch sonst nicht steht, scheint ihm hörbar suspekt zu sein. Ich sitze auf und spähe vorsichtige aus dem Zelt. Der Hund späht missmutig auf Augenhöhe zurück. Nein, da gehen wir nicht raus. Ich mache den Reissverschluss also sachte wieder zu. Glücklicherweise stehen wir eher auf einem Geröllfeld als auf einer saftigen Wiese, was nach 45 Minuten auch die Schafe bemerkt haben und weiterziehen. Bello nehmen sie mit. Danke.
Die gebellte Ladung Vierbeiner steckt uns in den Knochen. Die nächsten Tage sind wir angespannt und halten ständig nach Hunden Ausschau. Wir können die schöne Gegend nicht mehr entspannt geniessen. Es kommt auch tatsächlich zu weiteren Hundebegegnungen, die aber relativ glimpflich ablaufen. In Kulu, einer gemütlichen 50ˋ000 Einwohner Stadt, machen wir zwei Tage Pause. Danach werden wir die letzten 200 km nach Kappadokien in Angriff nehmen. Ein Highlight auf dass wir uns schon sehr freuen.
Liebe Radler
das ist wieder eine spannende Geschicke gewesen 👍😜 tolle Eindrücke schöne Bilder von Land und Leuten 🚲
gebt Obacht und noch viel Spass
liebe Grüsse
Erich