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Tadschikistan - raue Schönheit am Ende der Welt / 16.5.-3.6.22

“Cai, Cai” tönt es aus dem Kartoffelfeld, an dem wir gerade vorbeiradeln. Wir halten an und nehmen die Einladung an. Die ganze Familie unterbricht ihre Arbeit. Gemeinsam spazieren wir über den Acker zu ihrem Haus. Quitschend öffnet sich ein blaues Eisentor und gibt den Blick auf einen mit Kirsch- und Aprikosenbäumen gesäumten Innenhof frei. Im Gemüsegarten wachsen Gurken und Tomaten. Wäsche hängt in der Sonne. Schuhe und Spielzeug liegt herum. Eine rostige Hollywoodschaukel lädt zum verweilen ein. Der Platz sprüht vor Leben. Es ist überraschend kühl im Innern des Hauses. Der Wohn- und Essraum ist mit Teppichen ausgelegt. Wir machen es uns auf farbige Polstern gemütlich. Nun können wir uns einen Überblick verschaffen, in wessen Daheim wir gelandet sind.

Da ist Sacha und sein 4-jähriger Sohn Igi. Voller Stolz erzählt uns Sacha, dass Igi vor 3 Tagen beschnitten wurde. Mario bekommt sogar Fotos davon zu sehen. Sachas Frau strahlt in ihrem roten Gewand. Mit ihren wachen Augen und den Sommersprossen um die Nase ist sie wunderschön. Sie kichert verlegen. Sie ist zu scheu um mit aufs Foto zu kommen. Schade.

Sachas Onkel ist auch hier. Er ist Schreiner und hat den grossen hölzernen Schrank, der die ganze Wand einnimmt, selbst gezimmert. Er ist das einzige Möbelstück in der Wohnung.

Sachas Mutter hat für europäische Zungen einen unaussprechlichen Namen. Sie kürzt deshalb selbst mit “Nana” ab. Tadschikischen Ohren scheint es mit meinem Namen - Livia - ähnlich zu gehen. Ich werde zu “Lili”. Mario bleibt Mario. Nana ist eine offene fröhliche Frau. Sie spricht unaufhörlich und stellt uns jede Menge Fragen: Wie alt seid ihr? Seid ihr verheiratet? Habt ihr Kinder? Was arbeitet ihr? Woher kommt ihr? Wie ist das Wetter dort? Mit ein paar Brocken Russisch unsererseits, ein bisschen Englisch von Sacha, aber vor allem mit Händen, Füsse und Bildern auf dem Handy lassen sich alle Fragen beantworten. Bald kommt ein ganz passables Gespräch in Gange. Aus dem Tee wird eine ganze Mahlzeit mit Brot, Joghurt, Kompott, Nüssen und Plov, dem traditionellen Reisgericht. Wir verbringen einen wunderbaren Nachmittag bei diesen herzlichen, sympathischen Menschen. Rachmat - Danke!

Tadschikistan ist ein Land voller Naturgewalten. Gefühlt gibt es kein Weg, der nicht über einen Gebirgspass führt. Die Hälfte der Landesfläche liegt auf 3000 Metern und höher. Unglaublich. Wir fühlen uns stets wie am Ende der Welt.

Auf unserem Weg zum Bergsee Iskandarkul haben wir ausreichen Zeit die Bergwelt zu bestaunen. Die Felsen der mächtigen Berge schimmern in Variationen von orange-rot bis blau-grau. Wahre Kunstwerke. Eine Schotterpiste führt uns über 25 km hinauf auf 2200 M.ü.M. Malerisch liegt der See eingebettet im Hissargebirge.

Es knackt und rumpelt. Mario und ich werden vom Lärm geweckt. Verdutzt sehen wir uns an. Schneit es etwa immer noch? Es ist noch früh am Morgen. Wir liegen gut eingepackt in unseren Schlafsäcken im Zelt auf dem Campingplatz am Iskandarkul. In der Nacht hatte es geregnet. Irgendwann war das Geprassel der Regentropfen auf dem Zelt in ein dumpfes Ploppen von Schneeflocken übergegangen. Wir setzen uns auf und spähen raus. Weiss. Dicke Schneeflocke fallen vom Himmel. Bäume und Wiese sind mit Schnee bedeckt. Ein nächstes Knacken. Ein weiteres Knirschen. Donnernd geht ein Ast zu Boden. “Schnell raus!” ruft Mario. In Windeseile ziehen wir an, was gerade im Zelt herumliegt und hasten raus. Um uns herum überall Bäume, deren beblätterten Äste dem Gewicht des frühlingshaften Schnees nicht mehr standhalten. Auch die Campingplaztmitarbeiter sind bereits auf den Beinen und sehen überall zum rechten. Ihre Wollmäntel wehen im Wind. “Los, ihr müsst euer Zelt einpacken!” fordern sie uns aufgeregt auf. Eilig raffen wir das Nötigste zusammen. Knack! Rumpel! Keine Zeit, das Zelt zusammenzulegen, entscheiden wir. Knirsch! Grummel! Wir tragen es, wie es ist, mit Hilfe der Männer unter ein Vordach. Einer bietet uns ein Zimmer an. Ja, gerne! Heute ist definitiv kein Tag um Fahrrad zu fahren. Begleitet vom Knacken der Äste tragen wir unsere sieben Sachen durch das Schneegestöber zum Zimmer. Wir sind mittlerweile pitschnass. “Kommt, es gibt Tee und Frühstück”, lädt uns der Mann vom Campingplatz ein. Wir setzen uns ins Restaurant und sehen den Scheeflocken draussen beim tanzen zu. Wie wunderschön!

Gegen Nachmittag ist der Zauber vorbei. Am nächsten Morgen zeigt sich der Campingplatz ruhig und unschuldig. Nur die fein säuberlichen Stapel abgebrochener Äste zwischen den Bäumen erinnern an die Wettereskapaden von gestern.

Die Menschen führen zweifelsohne ein hartes Leben in Tadschikistan. Die Natur schenkt einem nichts in diesem Land. Die Leute sind bescheiden, demütig und bodenständig, dabei herzlich, freundlich und interessiert. Sie grüssen und heissen uns willkommen, sind dabei aber nie aufdringlich. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl. Selbst auf den Bazaren geht es angenehm gemächlich zu. Wir können ungestört durch die Märkte schlendern und geniessen das einkaufen richtig. Wunderbar.


Die Strassen teilen wir uns mit wenigen Autos, dafür mit Schafen, Ziegen und Eseln. Erst als wir uns der Hauptstadt Dushanbe nähern, nimmt der Verkehr allmählich zu.

Wie Fremdkörper wirken die prächtige Bauten, riesigen Statuen und ausladenden grünen Parkanlagen in Dushanbe. So ganz will das nicht zum sonst so einfachen Tadschikistan passen. Ein extremer Bauboom hat der beschaulichen Hauptstadt in den letzten Jahren ein ganz neues Gesicht verpasst. Moderne Hochhauskomplexe mit Wohn-, Büro- und Geschäftseinheiten stehen leer. Kaum jemand kann und will es sich leisten hier etwas zu mieten. In einem lächerlichen Wettstreit um den höchsten Fahnenmasten der Welt konnte Dushanbe nicht mit Städten wie Abu Dhabi, Baku und Jiddah mithalten. Natürlich nicht. Immerhin ein paar Monate hielt Tadschikistan den Weltrekord. Heute ist der mächtige Fahnenmast mitten in Dushanbe auf den 2. Platz gerutscht. Erstaunlich, woher das Geld dafür kam. Als ärmste der Ex-Sowjetrepubliken besitzt Tadschikistan weder Öl- noch Gasvorkommen, keine nennenswerte Industrie und nur gerade 7% der Landesfläche sind landwirtschaftlich nutzbar. Hätte das Geld nicht sinnvoller investiert werden können? Zum Beispiel in das marode Gesundheitssystem? Oder in die Stromversorgung in abgelegenen Gebieten? Vielleicht auch ins Bildungswesen?

Unser Hostel liegt in einem Wohnquartier. So lässt sich wunderbar das Alltagsleben beobachten. Unbeschwertes Kinderlachen hallt durch die Strassen. Rennen, Radfahren, Spielen. Wie wenig sich in diesen Momenten deren Kindheit von unserer unterscheidet. Wie unvergleichlich unsere Leben trotzdem sind und immer bleiben werden. Was haben diese Kinder für Perspektiven? Vergleichsweise gute, denn sie leben in Dushanbe. Hier gibt es gute Schulen, Universitäten und Arbeitsstellen. Was ist mit all den Kindern aus den Bergdörfern? Ihr Leben ist vorgezeichnet. Die schmerzliche Willkür in welche Welt wir hineingeboren werden, trifft uns mitten ins Herz. Wie unfair. Uns steht die Welt offen. Wir können unser Leben gestalten, wie wir wollen. Ein Privileg, das uns dankbar macht und den Wunsch weckt, etwas zurück zu geben. Etwas sinnvolles zu tun, mit diesem so priviligierten Leben.

Wir verlassen Dushanbe und fahren ein Stück mit Parvis mit. Mit seinem kleinen Kühltransporter fährt der sympatische Mann in unserem Alter bis nach Almaty in Kasachstan. Dort holt er Obst. Drei Mal in der Woche fährt er diese Strecke. 1200 km ein Weg. Kaum zu glauben, dass das finanziell lohnenswert ist. Doch er scheint mit diesem Fruchthandel seine Frau und die 3 Kinder ganz gut ernähren zu können. Es ist eine angenehme Fahrt. Wir sind froh, ein paar Höhenmeter zu sparen. Ausserdem liegen mehrere Tunnels auf der Stecke, darunter der berühmt berüchtigte Anzob-Tunnel. Stockfinster. Keine Lüftung. 6 km lang. Eine im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährliche Angelegenheit mit dem Fahrrad. Es ist schon mit dem Auto abenteuerlich genug.

Ein paar Tage später kochen wir müde von einem lange Tag auf dem Fahrrad Nudelsuppe. Es ist schon recht spät, bald wird es dunkel. Wir haben uns daher für einen schnellen Znacht entschieden. Seit langem war es heute wieder einmal nicht ganz einfach, einen Zeltplatz zu finden. Überall hat es Felder und Menschen. Aber vor allem: Bewässerungsgräben. So lässt sich das Zelt nicht zwischen Bäumen oder neben den Feldern aufstellen. “Hello!” Wir schrecken auf und blicken zu Seite. Ein bewaffneter Mann in Militäruniform steht dicht neben uns. Lautlos muss er sich genähert haben. Er will wissen, was wir hier tun, wer wir sind und unsere Pässe sehen. Als er merkt, dass wir harmlose Touristen sind, lächelt er und stellt uns interessiert Fragen zu unserer Reise. Wir nehmen eine Bewegung hinter uns wahr. Ein zweiter Soldat mit Gewehr in der Hand steht hinter uns. Aha, die Rückendeckung. Der erste Mann erklärt uns, dass wir zu nah an ihrer Kaserne sind. Ach, das Gebäude in 200 m Entfernung ist eine Militärkaserne. Das war uns nicht klar. Ausserdem befinden wir uns in Grenznähe, meint der Uniformierte. Das hingegen ist uns klar. Das lässt sich schlecht vermeiden, denn die Strasse verläuft nun mal über 50 km hinweg parallel zur usbekischen Grenze. Wir dürfen unser Abendessen beenden, dann müssen wir weg. Der Soldat entschuldigt sich, wünscht uns alles Gute und geht. Wir packen zusammen - zum Glück steht das Zelt noch nicht - und fahren weiter. Die Sonne geht gerade unter.

Ein paar Kilometer weiter, finden wir neben einem Feld ein Plätzchen, auf dem wir unser Zelt aufstellen könnten. Doch auf dem Feld wird noch gearbeitet. Zwei Männer sind da. Einer im Traktor beim umgraben des Feldes, einer am Telefon daneben stehend. Wir sprechen den Herumstehenden an und fragen um Zelterlaubnis. Er bejaht und bietet uns an, auf dem Tapchan zu schlafen, der unter einem Kirschbaum am Rande des Feldes steht. Das kingt gut! Wie lange haben wir schon keine Nacht mehr im Freien verbracht?

Als wir auf dem Tapchan eingerichtet sind, plaudern wir etwas mit unserem Gastgeber. Er hat 5 Kinder. Das Feld nebenan ist seins. Der Arbeiter im Traktor ist sein Angestellter. Erst wenn das Feld fertig umgepflügt ist, können sie gemeinsam nach Hause gehen. Wir merken, dass der Mann müde ist. Wir sind froh, dass sind wir nämlich auch. Wir legen uns hin. Auch er macht es sich am Fussende des Tapchans gemütlich. Zu den Klängen seines Schnarchens und dem Brummen des Traktors gleiten wir in den Schlaf. Mehr schlecht als recht. Es ist bereits fast Mitternacht als die Arbeit beendet ist und die beiden nach Hause gehen können. Endlich kehrt Ruhe ein. Nur Hundegebell ist aus der Ferne zu hören.


Zu Vogelgezwitscher wachen wir am nächsten Morgen auf. Die Sonne scheint sanft zwischen den Blättern auf unsere Gesichter. Draussen schlafen ist einfach schön!

Das war unsere letzte Nacht in Tadschikistan. Was für ein krönender Abschluss für diese wunderbare Reise. Tadschikistan und seine Menschen werden immer einen besonderen Platz in unseren Herzen haben.







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