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Georgien: ein Land im Wandel / 22.6. - 12.7.21

Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Doch jetzt, nach 3 Wochen in Georgien, haben wir es doch lieb gewonnen. Wir brauchten etwas Zeit, um Zugang zu Land und Leuten zu finden.

Es liegt eine bewegte Geschichte hinter Georgien - auch jüngst. Und es ist noch nicht vorbei. Georgien befindet sich nach wie vor im Umbruch. Es wird westlicher Standard angestrebt und viel in Tourismus und Infrastruktur investiert. Bis 2024 soll eine Bewerbung für die EU-Mitgliedschaft möglich sein. Dieser Weg ist noch weit und er gefällt nicht allen. Manche sind eher russlandorientiert oder wünschen sich die Sowjetunionzeit zurück. Zudem treffen liberale, linke Gruppierungen auf eine teils streng orthodoxe Kirche. So kam es dann auch zu gewaltsamen Ausschreitungen bei LGBTQ-Kundgebungen in Tiflis. Ein Georgier, mit dem wir sprachen meinte daraufhin leicht scherzhaft, aber mit einem bitter wahren Kern: “Die Georgien wollen nicht in Frieden leben, sie sind es einfach nicht gewohnt.”


Unsere Georgiengeschichte beginnt aber in Batumi. Die Hafenstadt am Schwarzen Meer liegt nur 20 km von der türkischen Grenze entfernt. In den Vororten laut und chaotisch, an der Meerespromenade und im neuen Zentrum ist die Stadt fein säuberlich herausgeputzt. Nett, aber irgendwie seelenlos. Von dort geht es ab ins kleine Kaukasusgebirge. Unser Ziel: der Goderdzi Pass (2025 m.ü.M.). Die Strecke führt dem Flusslauf des Coruh, später des Adschariszquali entlang. Wir fahren durch saftig grüne, bewaldete Täler. Lugen auf der ersten Etappe immer wieder Palmen mit riesigen Blättern aus den Wäldern hervor, wird es mit jedem geschafften Höhenmeter alpiner. Es ist sehr schön, doch um jemanden aus einem so zauberhaften, bergigen Heimatland wie wir es haben wirklich aus den Socken zu hauen, bräuchte es noch etwas mehr. Naja, wir tragen ja auch Sandalen. ;)

Wir queren unzählige Ortschaften, in denen oft erstaunlich viel los ist. Es tummeln sich Autos, Lastwagen und Minibusse auf den Strassen. Dazwischen Fussgänger*innen und wir auf den Velos. Wie bunte Farbtupfer finden sich viele kleine Obst- und Gemüseläden am staubigen Strassenrand. Die Minimärkte führen alle exakt das gleiche Angebot: Fisch- und Fleischkonserven, Tomatenpüree, Nudeln, Reis, Milch, Getränke (darunter einen beachtlichen Anteil an Bier und Schnaps) und diverse Kekse, Waffeln sowie andere Süssigkeiten. Tische und Stühle vor den Minimärkten laden zum verweilen, beobachten und das eben erworbene kühle Getränk geniessen ein.

Die Menschen hier müssen offenbar mit sehr wenig auskommen. Viele leben vom Weinanbau, haben ein paar Kühe oder Schweine und bauen ihr eigenes Gemüse an. Ausladende und reich verzierte Wohnhäuser, Schulanlagen, Gemeindebauten und öffentliche Toiletten erzählen von einer besseren Zeit, als Georgien eine der reichsten Sowjetrepubliken war. Der abblätternde Putz, die kaputten Fensterscheiben, die schrägn Balken und der allgemeine Zerfall halten dagegen und berichten von der neueren Geschichte voller Krieg, Unruhen und wirtschaftlichem Niedergang.

Auf dem Pass treffen wir in einem Beizli auf ein sehr angenehmes Wirtepaar und eine feiernde Ausflugsgesellschaft aus Batumi. Sie laden uns zu Burano - eine georgische Fondue-Variante - ein. Und natürlich auf Chacha (georgischer Schnaps) und Bier. Wir haben 25 km üble Schotterpiste hinter uns und auf dem Weg hinunter nochmals 20 km vor uns. So beschliessen wir eine Nacht auf dem Pass zu verbringen und dürfen unser Zelt neben besagtem Beizli aufstellen.

Einmal mehr sind es die Menschen, die uns das Land ans Herz wachsen lassen. Oft erst etwas zurückhaltend, zeigt sich ihre Herzlichkeit erst auf den 2. Blick. Als wir nach einem schlammigen Streckenabschnitt unsere Räder an einem Brunnen am Strassenrand putzen, werden wir von den Dorfbewohnern erst einige Zeit skeptisch beäugt. Doch bald holt ein Mann einen Gartenschlauch. Er legt gleich selbst Hand an, hilft beim putzen der Räder und spritz auch uns nass. Die Frauen scherzen und amüsieren sich köstlich. Wir verlassen das Dorf mit sauberen Velos, frischem Trinkwasser, einer handvoll geschenkter Aprikosen und um eine schöne Begegnung mit den humorvollen Menschen Georgiens reicher. Denn ja, die Georgier*innen haben durchaus Humor. So kommt es immer mal wieder zu unterhaltsamen Begegnungen unterwegs. Einmal treffen wir zum Beispiel auf eine Gruppe Bahnarbeiter, die mit einem handbetriebenen Gefährt auf den Gleisen unterwegs sind. Sie lachen und winken als sie uns kommen sehen. Per Handzeichen fordern sie uns zum Rennen heraus, das wir gerne annehmen. (Wir gewinnen. ;))

In Tiflis angekommen, steht für uns eine Entscheidung an. Der Plan, über Land nach Aserbaidschan weiterzureisen ist überraschenderweise nicht möglich. Als wir in der Botschaft das Visum beantragen wollen, erfahren wir, dass Aserbaidschan seine Landgrenzen coronabedingt noch zu hat. Tja, das Internet weiss eben doch nicht alles. Wir müssen also umplanen. Über Land bleibt nur Armenien, das eine Sackgasse ist. Per Direktflug ab Tiflis käme Tashkent in Usbekistan oder Aktau in Kasachstan in Frage. Nach einem Besuch auf der kasachischen Botschaft wissen wir, dass auch Kasachstan weg fällt. Die Grenzen sind noch geschlossen - zumindest für uns. Wären wir Deutsche dürften wir einreisen. So bleibt noch Usbekistan. Wir haben uns schon fast entschieden, der Usbekistanreiseführer ist heruntergeladen, Karton zum Verpacken der Räder für den Flug ist gesammelt, als wir merken: nein. Hatten wir uns nicht vorgenommen, nur als letzte Option zu fliegen? Doch. Und es gibt ja noch eine Überlandvariante: Armenien, die Sackgasse. Wir nehmen sie trotzdem und freuen uns darauf. :) Nicht zu weit in die Zukunft blicken, sondern nehmen was möglich ist, lautet unser Credo.

Tiflis überrascht mit Charme und Internationalität. Auch hier ist die Vergangenheit noch greifbar. 28 Mal wurde die Stadt bereits zerstört - und immer wieder aufgebaut. Die Menschen hängen an ihrer Stadt und lassen sich nicht so leicht unterkriegen. Es ist eine angenehme Atmosphäre hier. Wir sind viel zu Fuss unterwegs und erkunden Kirchen, Parks, die Narikala Burg, das Bäderviertel und den Botanische Garten. Wir geniessen die Tage hier und lernen nette, interessante Menschen kennen. Doch jetzt ist es Zeit, unserer Räder aus dem Hinterhof des Hostels zu holen, zu satteln und weiter zu fahren.




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