Mario: “Hast du das gehört?”
Ich, verschlafen: “Nein, was?”
Mario: “Da läuft etwas draussen herum...”
Ich: “Echt? Mensch oder Tier?”
Mario: “Eher Tier, es hat gegrunzt.”
Es ist unsere erste Nacht in Kroatien. Wir liegen tief eingepackt in unseren Schlafsäcken im Zelt. Ein schöner Tag liegt hinter uns. Der Grenzübertritt nach Kroatien verlief unspektakulär: ID zeigen, negative PCR-Testergebnisse zeigen (Pdf auf dem Handy reichte aus), sagen wohin wir gehen, fertig. Vom Grenzposten führt eine ruhige Strasse in gut 10 km an den Küstenort Umag. Dort rüsteten wir uns mit Kuna aus. Trotz EU-Mitgliedschaft wird in Kroatien nicht mit Euros bezahlt. In einem Café gaben wir einen kleinen Teil der Kunas gleich wieder aus und konnten erfolgreich die ersten gelernten kroatischen Worte anwenden. Am Abend fanden wir einen wunderbaren Platz zum zelten direkt am Meer. Dort liegen wir nun und lassen uns von Wildschweinen in den Schlaf grunzen.
In den nächsten Tagen fahren wir über Rijeka nach Karlovac, einer Stadt im Landesinneren. Auf einer Strecke von 235 km bewältigen wir dabei etwas über 4000 Höhenmeter. Die Etappe verlangt uns einiges ab. Im landschaftlich wunderschönen Naturpark Prirode Ucka müssen wir unsere Räder über Stunden hinweg immer wieder schieben. Die groben Geröllwege sind steil und kaum befahrbar.
Kroatiens Hinterland ist ruhig, waldig und hügelig. Die Menschen sind eher zurückhaltend, aber sehr freundlich und hilfsbereit. Einmal werden wir zum Beispiel mit Salami beschenkt. Ein anderes Mal, als wir triefend vor Nässe in einem Sobe (Zimmer, die privat vermietet werden) Zuflucht vor dem Regen suchen, werden wir vom älteren Gastgeberehepaar rührend umsorgt. Sie hängen unsere nassen Kleider in ihrem Heizraum zum trocknen auf, offerieren uns Schnaps um uns aufzuwärmen (morgens um 10 Uhr) und sorgen sich darum, dass wir zu Essen haben. Und als mein Pedallager den Geist aufgibt, finden wir einen netten Mann, der uns mit Werkzeug und Unterlagsscheiben aus seiner hervorragend bestückten Werkstatt aushilft.
Nach 6 Tagen kommen wir schliesslich in Karlovac an. Einen Schönheitswettbewerb würde die 55’000 Einwohner_innenstadt wohl nicht gewinnen. Aber wir sind ja auch nicht für Sightseeing hier. Im Jahr 2021 sind die ausschlaggebenden Kriterien für die Wahl unserer Reiseziele andere: Coronatestzentrum, ja oder nein? Es galt eine Coronatestmöglichkeit zu finden, die es uns erlaubt binnen 48 Stunden mit den Fahrrädern die Grenze zu Bosnien zu erreichen. So kommt es, dass wir nun in Karlovac sind. Karlovac hat seine Coronateststrasse in einem grossräumigen, alten, verfallenen Militärgelände eingerichtet. Es wird kein Termin benötigt, so fahren wir am Montagmorgen einfach hin. Es ist nicht viel los. Eine Frau verteilt Anmeldeformulare. Danach können wir einmal quer über das Gelände zum Registratgionschalter weiterfahren. Dort treffen wir auf eine weitere Frau, die zum Glück Englisch spricht. Wir haben bisher noch keine genauen Informationen über die Kosten des Tests, wie bezahlt werden kann, sowie die Dauer und Art der Ergebniszustellung. Zudem wollen wir uns absichern, ob ein Schnelltest für den Grenzübertritt nach Bosnien tatsächlich genügt. Die Fragen sind auf Englisch schnell geklärt. Ein Schnelltest reicht. Diese werden aber nur nachmittags gemacht.
Ein paar Stunden später. Wir fahren erneut zur alten Militärkaserne. Es hat sich bereits eine lange Autoschlange gebildet. Es werden wieder Anmeldeformulare verteilt. Dieses Mal bin ich vorbereitet und habe einen eigenen Kugelschreiber griffbereit. Wir warten zwei Stunden bis wir wieder am Registrationsschalterhäuschen angelangt sind, an dem noch alles auf Papier und von Hand erledigt wird. Die Registration verläuft reibungslos bis es ums Bezahlen geht. Wir wollen mit Karte bezahlen. Das geht trotz gegenteiliger Info der Dame von heute Morgen nicht. Kartenzahlung ist nur am Morgen möglich, nicht aber am Nachmittag. Ok. Also los zu einem Bankomaten. Als wir zurück sind, müssen wir uns erfreulicherweise nicht erneut hintenanstellen. Wir bezahlen je 150 Kuna (23 Chf) in bar. Hm, hatte die Frau heute Morgen nicht einen Preis von 200 Kuna erwähnt? Das wäre jetzt wohl der Zeitpunkt gewesen, an dem an der Richtigkeit aller Informationen, die uns die auskunftsfreudige Frau heute Morgen gab, hätten Zweifel aufkommen sollen. Aber nein, sie taten es nicht. So lassen wir uns unbedarft ein Stäbchen in die Nase stecken, warten 15 Minuten bis wir auf Papier das negative Ergebnis erhalten und radeln aus der Stadt.
Die Strecke von Karlovac an die bosnische Grenze ist landschaftlich geprägt vom Fluss Korana. Im Ort Slunj eröffnet sich im historischen Dorfteil Rastoke ein einzigartiger Anblick. Hier fliesst die Slunjcica in die Korana. Es haben sich viele kleine Flussarme, Kaskaden und Wasserfälle gebildet, die mitten durch Rastoke fliessen. Die historischen Häuser sind umgeben von Wasser und Wasserfällen. Wahrlich eine märchenhafte Szenerie. Wir sind total überrascht und beeindruckt ab dieser Schönheit.
Die Gegend wir merklich touristischer. Zumindest was die Infrastruktur anbelangt. Es hat viele Hotels, Unterkünfte und Restaurants, zudem gekennzeichnete Wander- und Velorouten. Touristen sind wir aber gefühlt nach wie vor die einzigen. Eines von Kroatiens Highlights liegt hier ganz in der Nähe: der Nationalpark Plitvicka Jezera. Der Park ist vorallem für seine Seenlandschaft bekannt. Winnetoufans dürfte er ausserdem ein Begriff sein: die Karl-May-Filme wurden dort gedreht. Aus Zeitgründen lassen wir einen Besuch der Plitvicer Seen aber aus.
Durch weitläufige Hügellandschaft und kleine Ortschaften fahren wir an die Grenze zu Bosnien & Herzegowina. Die ersten zwei Grenzkabäuschen passieren wir problemlos. Beim dritten wir der Covid-Test kontrolliert. Ich reiche dem jungen Herrn am Schalter die Papiere. Er sieht sie lange an und geht dann sogar damit ins Hauptgebäude. Was das zu bedeuten hat? Oje, jetzt merke ich, dass ich ihm aus Versehen die Quittungen, nicht die Testergebnisse gegeben habe. Uups. Hat er das nicht gemerkt? Wieso hat er nichts gesagt? Er kommt zurück, sagt aber nach wie vor nichts. Ich reiche ihm die Testergebnisse. Er verschwindet damit wieder im Hauptgebäude. Langsam werden wir etwas nervös. Kommt schon gut, versuchen wir uns einzureden. Er kommt zurück mit einer Hiobsbotschaft im Gepäck: der Schnelltest reicht nicht, es muss ein PCR-Test sein. Nein, bitte nicht! Wir versuchen ihm klar zu machen, was das für uns mit den Fahrrädern bedeutet. Nämlich, dass wir über 100 km zurückfahren müssen. Wir versuchen es mit Honig ums Maul schmieren. Sagen, wie gerne wir doch sein schönes Heimatland besuchen wollen. Wir versuchen an seine Vernunft zu appellieren. Wir zeigen ihm den PCR-Test aus Italien, sagen, dass wir immer Masken tragen und Abstand halten, wir also keine “Gefahr” darstellen. Ganz im Gegensatz zu den Grenzbeamten, die ohne Masken zu dritt in einem 4 Quadratmeterhäuschen sitzen.... das sagen wir aber natürlich nicht. :) Er lässt sich nicht erweichen. Wir müssen umkehren. Frustriert und fassungslos setzen wir uns auf der kroatischen Seite erst mal auf eine Bank. Noch nie wurden wir nicht ein Land gelassen.
Wir analysieren die Lage und diskutieren unsere Möglichkeiten. Ein Blick auf die Karte zeigt im Umkreis von 30 km zwei weitere Strassen bzw. Wege, die nach Bosnien & Herzegowina führen. Wir beschliessen dort die Lage in Augenschein zu nehmen. Die erste Option führt uns auf einen alten Militärflughafen. Verlassene Kasernen stehen im Wald, ein Flugzeug mit Einschusslöchern steht neben der Landebahn... als Ausstellungsstück? Wir können diesen Platz nicht richtig einordnen. Generell hat sich die Atmosphäre in Grenznähe etwas verändert. Der Schmerz des Krieges scheint hier noch förmlich in der Luft zu hängen. Dieses Gefühl hatte ich in anderen Teilen Kroatiens nicht. An der Grenze ist der Waldweg mit Betonblöcken versperrt. Zwei Polizisten sind auch anwesend. Sie klären uns darüber auf, dass hier kein Grenzübertritt möglich ist.
Wir fahren also zurück und radeln zu einem anderen kleinen Grenzübergang. Es ist eine Schotterpiste im Wald, die durch vermintes Gebiet führt. Das kommt jetzt irgendwie überraschend. Wir wussten zwar, dass in Bosnien und im Grenzgebiet noch Landminen im Boden liegen, aber jetzt plötzlich durch ein solches Gebiet zu fahren ist sehr surreal. Das gepflegte Kroatien, mit beschilderten Velorouten, Touristenunterkünften und Aufslugszielen liegt hier doch gleich um die Ecke? Einmal abgebogen und schon sind wir in einer anderen Welt. Es hat vereinzelte bewohnte Häuser hier, andere sind zerstört und verlassen. Ein kleiner Schulbus fährt an uns vorbei. Ich denke daran, wie ich als Kind unbeschwert in Wald und Wiesen gespielt habe. Kaum vorzustellen, wie es ist, hier aufzuwachsen.
Ein paar Meter vor der Grenze wird die Strasse breit und geteert. Der unverhältnismässig grosse Grenzposten steht wie ein Fremdkörper in der Landschaft. Auf der bosnischen Seite ist ein kleines Dorf. Wir sind so nah. Doch auch hier ist kein Rüberkommen. Dieser Grenzübergang ist nur für die lokale Bevölkerung, die im Umkreis von 5 km lebt. “Warum?” frage ich ehrlich interessiert und wohl etwas naiv. Ich bekomme keine Antwort. Dem Blick der Polizistin ist aber anzusehen, dass diese Frage für sie völlig irrelevant und absurd ist. Mir wird in aller Deutlichkeit bewusst, dass meine Lebensrealität von offenen Grenzen (von Corona mal abgesehen), bereits so nah von zu Hause für die Menschen hier eine ganz andere ist.
Wir geben auf. Heute kommen wir nicht mehr nach Bosnien. Wir fahren zurück ins Dorf Rakovica und nehmen uns dort ein Zimmer. Am nächsten Morgen (5:30) machen wir mit dem Bus einen Tagesausflug nach Karlovac um einen PCR-Test zu machen. Mit dem Bus sind wir in knapp 2 Stunden da. Der PCR-Test ist am Vormittag schnell erledigt - wir kennen uns ja inzwischen aus. Bis der Bus am Nachmittag zurückfährt vertreiben wir uns die Zeit mit shoppen um mein Pedal nochmals zu flicken. Das Pedal steckt mittlerweile lose auf Welle. Es lässt sich aber erstaunlich gut fahren damit. :)
Am nächsten Tag machen wir uns ein letztes Mal auf in Richtung Bosnien & Herzegowina. Das negative PCR-Testergebnis haben wir gestern Abend per Mail erhalten. Die Stimmung ist etwas gedrückt. Irgendwie will sich die Vorfreude auf Bosnien gerade nicht mehr einstellen. Zu aufreibend waren wohl die letzten Tage. Die 17 km bis zur Grenze erscheinen uns endlos und anstrengend. Endlich erreichen wir den Grenzposten. Und dann, keine 5 Minuten später berühren unsere Reifen zum ersten Mal bosnischen Boden. So plötzlich, so einfach. Die Anspannung fällt ab und weicht purer Freude. Bosnien und Herzegowina. Wir sind da.
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