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Liechtenstein - Serbien : Wiedereinstieg ins Radreiseleben, 4.4. - 1.5.22

Eine grosse Männerhand drückt mich kräftig am Arm. Erschrocken ab der unerwarteten Berührung mitten auf einer viel befahrenen Kreuzung drehe ich mich um. Ich blicke in das zerfurchene Gesicht eines älteren Mannes. “Welcome” - “Bravo” schreit er uns über den Verkehrslärm hinweg an. Er klopft Mario anerkennend auf den Rücken und hält mir eine kleine Papiertüte mit Süssigkeiten unter die Nase. Die Ampel vor uns schaltet auf Orange. Unser Wohltäter hastet zurück in den klapprigen roten Linienbus, dessen Fahrer er ist. Es wird Grün und er gibt Gas. Auch wir treten wieder in die Pedale. Nur noch wenige Kilometer, dann haben wir Belgrad erreicht.


Fast ein Monat ist vergangen, seit wir daheim aufgebrochen sind. Wieder einmal. Ein letztes Mal? Wer weiss.


Wie gewohnt starten wir Zuhause. Denkbar unspektakulär verläuft der Abschied. Genau wie wir es mögen. Es ist ein Abschied in Raten, denn wie fahren am ersten Tag nur bis in den Triesenberg. Mario hat in den letzten Monaten unseren Freunden Marc und Annalena vom Lama- und Alpakahof fleissig geholfen, ihre neue Jurte einzurichten und aufzustellen. So freut es uns ausserordentlich, dass wir nun ihre ersten Gäste sein dürfen. Wunderschön ist die Jurte geworden!

Von Triesenberg geht es über schöne Waldwege oberhalb von Vaduz und Schaan bis nach Nendeln. Selbst in Liechtenstein lassen sich neue Wege entdecken. Wir verlassen das Land und steuern unser nächste Station an: Marios Familie in Vorarlberg. Wir verbringen eine gemütlichen Abend und Morgen im Kreise der Familie.

Doch dann ist es Zeit, dass es richtig los geht. Der Arlbergpass wartet auf uns! In aller Ruhe strampeln wir den Berg hinauf. Am ersten Tag schaffen wir es bis nach Klösterle auf 1100 m.ü.M. Die letzten 700 Höhenmeter fahren wir am nächsten Morgen in strahlendem Sonnenschein. Das anfangs etwas bedrohlich klingende Vorhaben den Arlbergpass zu überqueren, stellt sich mit genügend Geduld und Musse als überraschend einfach heraus.

In den nächsten Tagen radeln wir nach Innsbruck und steigen dort in den Zug nach Graz.

Von Graz sind es noch 70 km bis nach Ungarn. Irgendwann auf dieser Strecke beginnt mein Bremssattel zu lecken. Ein Dichtring ist beschädigt. Das Bremsöl läuft über die Beläge und die Bremsscheibe. Glücklicherweise fahren wir kurz darauf an einer Landmaschienenwerkstatt vorbei. Wir halten und fragen nach Bremsenreiniger und Schleifpapier, um die Bremsscheiben und -beläge wieder sauber und bremsbar hinzukriegen. Ausserdem bekommen wir neues Mineralöl und können bei der Bremse gleich einen Ölwechsel vornehmen. Der Betreiber der Werkstatt stellt uns alles wortkarg aber freundlich zur Verfügung. Als wir fertig sind, nimmt er sich trotz vollem Arbeitspensum kurz Zeit für einen Schwatz. Er ist überrascht über unsere weiteren Destinationen und äussert sich ziemlich abfällig über die Menschen in Serbien und Rumänien. Wir teilen seine von Vorurteilen behaftete Meinung natürlich nicht. Mögen manche Menschen in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht noch so fragwürdige Ansichten vertreten, sind sie zu zwei nach Hilfe fragenden Velofahrer:innen in aller Regel nett. Das ist eine Erfahrung, die wir auf unseren Reisen schon des öfteren gemacht haben. Obwohl es uns traurig stimmt, dass manche Menschen andere immer noch auf Grund ihrer Herkunft verurteilen, lässt uns diese Nettigkeit, die uns entgegen gebracht wird, doch an das Gute im Menschen glauben.

Ein paar weitere Radreisetage bringen uns an den Balaton in Ungarn. Der Plattensee, wie er auf Deutsch heisst, ist mit 594 km2 der grösste See Mitteleuropas. Sein Südufer ist dicht mit Einfamilien- und Ferienhäuschen bebaut. Es ist trotz Ostern sehr ruhig. Die Saison hat noch nicht begonnen. Ungarn ist einfach und schön mit dem Rad zu bereisen. Es hat viele Radwege und kleine Überlandstrassen. Abends finden wir ohne lange suchen tolle Wildcampingspots.

Am Balaton zweigen wir gen Süden ab. In wenigen Tagen erreichen wir die Grenze zu Serbien. Ein neues Land für uns beide.Wir freuen uns: zurück im Balkan! Letztes Jahr auf dem Weg in die Türkei haben wir einen Teil des Balkans bereist und Feuer gefangen. Serbien fühlt sich gleich sehr vertraut an. Ganz selbstverständlich grüssen wir die Leute mit “Dobar dan” und bedanken uns routiniert mit “Hvala”.

Auf erstaunlich guten Radwegen fahren wir der Donau entlang. Diese hält sich oft vornehm bedeckt und schirmt sich mit einem breiten Waldstreifen ab. Immer mal wieder folgen wir dem Eurovelo 6 der vom Atlantik bis ans Schwarze Meer führt. Manche unserer Wege führen auch durch Felder und Wiesen und an kratertiefen Schlaglöchern vorbei. Dafür sind die Pausenörtchen dann oft umso schöner.

Äusserlich finden wir schnell wieder in unsere Radreisealltag zurück. Alle Handgriffe sitzen, die Aufgabenverteilung ist klar. Wir funktionieren gut als Radreiseteam. Innerlich dauert es länger als erwartet. Wir sind gedanklich oft Zuhause. Jeder Aufbruch ist aufs Neue ein Ablösungsprozess, der seine Zeit einfordert. So ändern sich unterwegs auch Pläne und Wünsche. Wir merken, dass wir nicht mehr all zu lange in Europa bleiben wollen. Entweder daheim oder wirklich weit weg - das Dazwischen ist für uns im Moment nicht stimmig.


Belgrad. Mit 1,7 Millionen-Einwohner:innen ist sie die grösste Stadt des Balkans. Sie bildet einen heftigen Kontrast zum beschaulichen einfachen Landleben, das wir bisher sahen. Wir fühlen uns trotz der Grösse der Stadt sehr wohl. Belgrad ist eine der ältesten Städte Europas. Hier am Zusammenfluss von Save und Donau siedelten schon in der Altsteinzeit Menschen. Durch die bewegte Geschichte Serbiens versprüht die Stadt internationales Flair. Einst von den Osmanen beherrscht und später teilweise von Österreich-Ungarn eingenommen, wurde Serbien nach dem zweiten Weltkrieg unter Tito sozialistisch. In den 1990ern als Jugoslawien zerbracht, bliebe Serbien quasi übrig. Im Zuge des Kosovokrieges wurde Belgrad 1999 von der NATO bombardiert. Spuren davon, konnten wir keine mehr entdecken. Der Konflikt mit dem Kosovo besteht weiterhin. Bisweilen zum Glück friedlich. Obwohl die grosse Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit des Kosovos anerkennt, tut dies Serbien bis heute nicht.


Unser erster Tag in Belgrad verbringen wir auf Veloreisendenart: wir streunern durch die Stadt und suchen nach Fahrradkartonboxen und Verpackungsmarterial. Denn ja, wir haben uns entschieden in die Ferne zu fliegen. In Heimwekerläden und Fahrradshops kommen wir an nicht touristische Ecken der Stadt. Die Menschen sind sehr freundlich und hilfsbereit. So haben wir ganz stressfrei in einem Tag das ganze Material zusammen und einen Flug gebucht. Bereits am zweiten Tag hat Mario die beiden Fahrräder auseinander genommen und verpackt. Es bleiben uns noch drei weitere Tage in Belgrad, die sich mit kleineren Erledigungen, Sightseeing und durch grüne Parkanlagen schlendern schnell ausfüllen.







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